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05.10.2023

100 Jahre Bayerische Ärzteversorgung

100 Jahre – ein Zeitraum voller bewegender Ereignisse: Die völlige Geldentwertung während der Hyperinflation, die Goldenen Zwanziger und die Große Depression in der Zeit der Weimarer Republik. Auf die erste Demokratie auf deutschem Boden schließt sich die rund zwölf Jahre währende Herrschaft des Nationalsozialismus an; sie bringt Zerstörung und millionenfachen Tod. Schließlich stehen die allermeisten Deutschen vor dem Nichts, sind vertrieben, ausgebombt und Opfer des eigenen kollektiven Größenwahns. Es folgen Währungsreform, Wiederaufbau, Blockbildung zwischen Ost und West, gesellschaftliche Umwälzungen in den 1970er-Jahren, dann politische Entspannung ab Ende der 1980er-Jahre, deutsche und europäische Einigung, digitale Revolution, Globalisierung – die Menschen hatten viele Veränderungen und Krisen zu bewältigen. Und auch das 21. Jahrhundert begann mit enormen Herausforderungen, verursacht durch internationalen Terrorismus sowie Finanz- und Wirtschaftskrisen. Eine Epoche des ständigen Umbruchs mit widersprüchlichen und gegenläufigen Entwicklungen. Und mittendrin: die Bayerische Ärzteversorgung.

Die Beweggründe zur Errichtung des Versorgungswerks finden sich in den turbulenten 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Vor dem Ersten Weltkrieg waren Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte als Angehörige des gehobenen Mittelstands durchaus in der Lage, für die eigene Altersversorgung und die Absicherung der Familienangehörigen ausreichend vorzusorgen. Der militärische und staatliche Zusammenbruch sowie die immer weiter zunehmende Inflation ließen die Situation plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Vermögen begannen rasch zu schwinden, die Versicherungen wurden wertlos, Honorare aber oft erst zu einer Zeit bezahlt, zu der sich die Heilberufler dafür kaum das Notwendigste kaufen konnten. Ein häufig gebrauchtes Schlagwort sprach damals vom „Todeskampf des Mittelstands“.

Der tatkräftige und zielbewusste 1. Vorsitzende des Landesausschusses der Ärzte Bayerns, Sanitätsrat Dr. Alfons Stauder, entwickelte angesichts dieser scheinbar ausweglosen Situation kühne Pläne zur Überwindung der Notlage. Er war überzeugt, dass eine bezahlbare soziale Sicherung nur über eine Pflichtversicherung mit Beitragsumlage und staatlicher Aufsicht zu erreichen ist. Nachdem die von Dr. Alfons Stauder aufgestellten Leitsätze zur – wie man sie damals noch titulierte – „Pensionsversicherung der Bayerischen Ärzteschaft“ vom 3. Bayerischen Ärztetag einstimmig angenommen wurden, erarbeiteten die Bayerische Versicherungskammer und die Vertreter der Berufsstände den Gesetzesentwurf für die Einrichtung der Bayerischen Ärzteversorgung, die ihre Arbeit schließlich am 1. Oktober 1923 unter geradezu absurden Verhältnissen aufnehmen konnte.

Das „Gesetz über die Bayerische Ärzteversorgung“ sah einen einmaligen staatlichen Gründungsbeitrag von 1 Milliarde Mark vor, der als Grundstock dem Vermögen zugeführt werden sollte. Als aber dieser Betrag dem neuen Versorgungswerk überwiesen wurde, hätte er aufgrund der rasant fortschreitenden Geldentwertung nicht einmal ausgereicht, um die Kosten für den Satzungsdruck zu decken. Auch die Einkommensverhältnisse der Mitglieder und damit ihre Möglichkeit zur Beitragsleistung waren bis zum Ende der Inflation geradezu trostlos. Die Verantwortlichen betraten zugleich versicherungstechnisches Neuland, da sie über nahezu keine Unterlagen verfügten, die eine Einschätzung des von der Versorgungseinrichtung zu tragenden Risikos zuließen. Alles in allem eine gewaltige Herausforderung mit vielen Unwägbarkeiten.

Und dennoch war ein politisch revolutionärer Schritt vollzogen: Zum ersten Mal gab es ein soziales Sicherungssystem, das die Eigeninitiative und Solidarität der ärztlichen, zahnärztlichen und tierärztlichen Berufsstände mit der Durchsetzungsmacht des öffentlichen Rechts verband. Der Schriftverkehr aus der damaligen Zeit belegt, dass es wohl ohne die Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit einiger Protagonisten der ersten Stunde nicht zur Errichtung des Versorgungswerks gekommen wäre. Damit wurde in den Gründungsjahren die oft zitierte Brecht´sche These, dass „alle großen Ideen an den Leuten scheitern“, eindrucksvoll widerlegt.

Natürlich blieb das Versorgungswerk in der Folge von stürmischen Zeiten nicht verschont. Die fortwährende Hyperinflation, der Zweite Weltkrieg und die Währungsreform 1948 stellten die Bayerische Ärzteversorgung vor weitere Herausforderungen. Doch dank der Umsicht der Standespolitiker, motivierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie des Rückhalts der Mitglieder gelang es, Krisen zu durchstehen und gestärkt daraus hervorzugehen. Vor allem nach der erfolgreichen Bewältigung der Folgen des Zweiten Weltkrieges war es naheliegend, dass die Bayerische Ärzteversorgung Anreiz und Vorbild für all diejenigen Freiberufler wurde, die nunmehr aus dem neuen Desaster die gleichen Konsequenzen zogen, nämlich den Entschluss, berufsständische Versorgungswerke aufzubauen.

Aus den ersten, bisweilen schwierigen Gehversuchen hat sich über viele Jahrzehnte eine stabile Solidargemeinschaft mit beachtlichem Leistungsniveau entwickelt. Die Ziele der Gründergeneration sind erreicht worden, mehr noch: Das älteste und mitgliederstärkste Versorgungswerk in Deutschland hat eine Entwicklung genommen, die als beispielhaft bezeichnet werden kann. Verfolgt man den historischen Weg der Bayerischen Ärzteversorgung, wird rasch sichtbar, dass der Kern, nämlich eine ausgeprägte Mitgliederorientierung und die Fähigkeit, neue Entwicklungen aufzugreifen, damals wie heute bestimmend ist. Das „Geschäftsmodell“ stellt traditionell die Bedürfnisse des Berufsstandes in den Mittelpunkt und kann daher durchaus als Musterbild für Kundenorientierung bezeichnet werden.

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